27.03.18
Lambert Maria Wintersberger auf Schloss Dätzingen

Am 23.3.2019 eröffnete auf Schloss Dätzingen in der Nähe von Stuttgart in der Galerie Schlichtenmaier die Ausstellung: Lambert Maria Wintersberger / Die Realität des Abbilds
Zur Eröffnung sprach Dr. Günter Baumann. Seine Einführung in das Schaffen von Lambert Maria Wintersberger wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Wir durften diesen hochinteressanten Text mit freundlicher Genehmigung der Galerie Schlichtenmaier hier veröffentlichen.
»Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die Höhe und intonierte: Introibo ad altare Dei.« – Dort darf ich zum Altare Gottes treten.
Liebe Freunde der Kunst, ich begrüße Sie ganz herzlich im Namen der Galerie Schlichtenmaier in Schloss Dätzingen zur Ausstellung mit Arbeiten von Lambert Maria Wintersberger. Wir freuen uns, dass der Sohn Sanford Wintersberger zur Vernissage gekommen ist – schön, dass Sie da sind. Herzlich begrüßen will ich auch Konstanze Wolter, die Gründerin und Geschäftsführerin des Kunstauktionshauses e-artis, die auch den Nachlass von Lambert Maria Wintersberger gesichtet und inventarisiert hat. Wir danken Ihnen für die unkomplizierte Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Ausstellung. – Als wir vor zwei Jahren in dem Bahnstationshaus im elsässischen Walbourg waren, in dem Wintersberger bis zu seinem Tod lebte und arbeitete, sahen wir uns einem hinterlassenem Werk gegenüber, das sich über alle Stockwerke des Hauses hinweg sowie in ein großes Gartenhaus hinein erstreckte, von den Plastiken im Garten ganz zu schweigen. Ohne die Systematisierung des verbliebenen Schaffens wäre diese Ausstellung in der vorliegenden Breite kaum zustande gekommen.
»Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen.« Ich zitierte eingangs den Anfang des Jahrhundertromans von James Joyce, »Ulysses«. Nicht von ungefähr beginnt er mit einer Rasierszene: Der von Symbolen, Chiffren und Hintergründigkeiten strotzende Roman machte aus der Rasur eine quasireligiöse Handlung – darüber hinaus wird das Vergangene sinnbildlich abgeschnitten und eine neue Zeit eingeläutet. Der Roman erschien 1922. Wenige Jahre später, 1929, forcierte ein Film das Rasiermesserbild: Im Prolog des surrealistischen Streifens »Ein andalusischer Hund« von Salvador Dalì und Luis Buñuel zerschneidet ein Mann mit der Klinge das Auge einer Frau – auch das ein radikales Bild, um die Trennung der neuen Zeit von der Vergangenheit und Tradition zu demonstrieren. Warum erzähle ich das? Oben im ersten Raum der Galerie findet sich ein Gemälde von Lambert Maria Wintersberger: auf ihm wird ein nach unten gerichteter Daumen an der Kuppe von einer Rasierklinge zerschnitten. Wer auf dem Bild von 1967 die Klinge angesetzt hat oder wem der Daumen gehört, bleibt verborgen, ist aber auch aufgrund der völligen Anonymität der Szenerie, die rasch an ein symbolisches Pars-pro-toto-Motiv denken lässt, von keinerlei Interesse. Der Titel stellt nüchtern den Befund klar: »Verletzung«. Die empathiefreie Darstellung und die überdimensionalen Gliedmaßen verstärken die bedrückende Atmosphäre umso mehr, als Winterberger die ganze Darstellung in geschmeidige Formen hüllt und in eine gänzlich weich gezeichnete Farbigkeit taucht. Der brutale Einsatz einer kommerziellen Gilette-Klinge, die in ihrer Monumentalisierung zugleich ein Werbeplakat zieren könnte, kontrastiert mit der gesellschaftlichen Realität der Verletzlichkeit. Rund 40 Jahre nach James Joyce und Luis Buñuel kann man die Rasierklinge im Wintersberger-Bild durchaus auf die Abrechnung mit der eigenen Zeit beziehen, immerhin sind die späten 1960er Jahre von Umbrüchen in der Gesellschaft geprägt, die 1968 kulminierten.
Wintersberger stellt keine Situation dar, er seziert sie. Er reagiert mit seinem zwischen 1965 und 1975 entstandenen Werk unmittelbar, aber völlig selbständig auf die Pop Art. Auch bei ihm steht die nüchterne, auch ernüchternde Konsumwelt im Fokus. Er verknüpft jedoch die Werbewelt – die Rasierklinge verspricht in der Welt der Werbung ja nicht den gefährlichen Einschnitt, sondern eine glatte Haut – mit physisch zugefügten Schmerzen. Klaus Honnef beschrieb bereits Ende 1969 den Zusammenhang vom schönen Schein der Werbung und des Schönheitskults mit der Ausblendung gesellschaftlicher Missstände. »Den Bewusstwerdens-Mechanismus zündet Wintersberger mit frappierender Evidenz, indem er die psychischen Friktionen, die aus dem Druck gesellschaftlicher Ansprüche ans Individuum resultieren, gleichsam verkörperlicht und dem sinnlichen Rezeptionsvermögen verfügbar macht. Psychische Nötigungen werden durch physische vergegenwärtigt! Während kosmetische Operationen permanent das gesellschaftliche Selbstverständnis auf Hochglanz polieren, entdeckt Wintersberger den Stachel dahinter.« Zitat Ende.
Es war wohl tatsächlich ein »Zwischenfall beim Maniküren«, so erinnert sich Honnef, der zur Serie der »Verletzungs«-Bildern führte. Angesichts der Weichzeichner-Ästhetik könnte man an das Sprichwort denken, Schönheit müsse leiden, doch Wintersberger ist eben weit entfernt, den schönen Schein zu propagieren, wie ihn die meisten Pop-Art-Kollegen kultivieren. Der Münchner Maler, der inzwischen in Berlin Anschluss an die bundesdeutsche Kunstszene gefunden hatte, nutzte die Schönheit der klaren Form und der glatten Oberfläche, um unmittelbar weh zu tun. Dass er das allein durch malerische Mittel vermochte, ist bezwingend: Er braucht kein Kunstblut, er sucht die maximale Distanz zur inszenierten Darstellung, und doch trifft Wintersberger den Betrachter physisch. Noch einmal Klaus Honnef: »Er (der Betrachter) fühlt sich attackiert, weil Wintersberger direkt in sein Zentralnervensystem zielt … Der Beobachter überträgt, was er im Bild erblickt, ohne Umschweife auf seinen eigenen Körper.« Man meint, heute sei man sicher abgebrühter als vor 50 Jahren – aber offenbar funktioniert das noch immer. Bedenkt man zudem, dass der Schönheitskult heutzutage mehr Zugeständnisse an den Schmerz macht als früher – ich denke an Piercings, Tätowierungen, operative Eingriffe – zeigen die Verletzungen von Wintersberger eine erschreckende, schaurig-schöne Gegenwärtigkeit. Die Abgehobenheit der Körperdetails vom Gesamtkörper, den wir Betrachter automatisch dazu denken, machen aus Fingern, Mündern regelrecht Bauteile, die übertragbar werden auf gesellschaftliche Defizite einer hochgezüchteten, profitorientierten Zivilisation.
Die Serientitel haben – von der »Verletzung« abgesehen – einen nahezu technoiden Charakter: »Sprengung«, »Verspannung«, »Spaltung«. So erschreckend der optische Eindruck von der körperlichen Verstümmelung und Autoaggression angesichts des brutalen Realismus sein mag, wehrt sich der Verstand gegen das Gefühl des nacherlebbaren Schmerzes. Nehmen Sie das Gemälde »Sprengung 1«: Ein Daumen oder ein Zeh – beim Anschauen werden wir uns schon bewusst, dass es gar nicht so eindeutig ist mit dem Realismus – ist vom Wuchs her zwar von makelloser Gestalt, doch ist ein Teil davon anscheinend weggesprengt worden. Der Clou dabei ist, dass aus den Wundstellen Montiereisen ragen. Wollen wir uns emotional abwenden bei einer derart grausamen Tat, analysiert der Kopf auch schon das Geschehen: Was für ein Körperteil soll das sein? Die grau und blau nuancierte Farbigkeit lassen eher an einen Stein denken als an einen Menschen aus Fleisch und Blut? Könnte es sich um den Ausschnitt eines gesprengten Monuments handeln, das zwar den Akt einer Zerstörung bestätigt, aber mit uns doch nichts zu tun hat. Zwischen Unbehagen und Entwarnung sind wir mit der Gewalt konfrontiert, aber es besteht kein Grund, sich abzuwenden, zumal – das mag nun verwundern – Wintersberger keineswegs die Ästhetik vernachlässigt: Das über zwei Meter hohe Gemälde ist perfekt komponiert, der Daumen- oder Zehennagel ist sogar als absolut schön zu bezeichnen, und der Rest des Fußes bzw. der Hand ist so eigenwillig ausgestaltet, dass die Anatomie zugunsten der abstrakten Flächenverteilung aufgehoben ist. Zu guter Letzt machen die keck ins weggesprengte Nichts ragenden Eisendrähte aus dem Bild ein sur-reales Ereignis, das ein atemberaubendes Pathos entfaltet.
Fassen wir zusammen, um nicht den Eindruck zu erwecken, als ginge es nicht um Gewalt und Zerstörung. Monumentale Gliedmaßen, allen voran Finger – und hier oft der Daumen – und die Mundpartie, werden im früheren Werk von Lambert Maria Wintersberger zerschnitten, geklammert, verspannt, genagelt, gespalten, gesprengt, verschnürt oder sonstwie malträtiert. Die Folterwerkzeuge des Alltags – Rasierklingen, Dosenöffner, Nägel, Drähte und Heftklammern – scheinen von Geisterhand bewegt worden zu sein, in Haut und Fingernägel getrieben, im Begriff, Fingernägel aus der Haut zu hebeln, die Glieder zu zerstückeln. So unmittelbar bedrohlich und unverhohlen aggressiv diese Arbeiten der 1960er und frühen 70er Jahre aber wirken, so wenig bedienen sie kranke Gewaltphantasien oder einen puren Voyeurismus. Der Reflex auf die Gewalt, die der Mensch sich selbst oder anderen zufügen kann, ist durchdacht, von einer Lust getrieben, die weniger sadistisch oder sadomasochistisch motiviert ist, als dass sie dem Abenteuer der Malerei, konkret des Farbauftrags frönt. Die meist zu hohem Prozentanteil mit Weiß gemischte Farbe hält – wie gesagt – die Körperteile auf Distanz zum Betrachter, kein Blut fließt, die Fleischlichkeit versteckt sich unter einer nüchtern artifiziellen Oberfläche. Zudem erweist sich so manche Fingerschraube als Bilderschraubhaken, ein Requisit aus dem Setzkasten von Galeristen und Museumsleuten, das zur Aufhängung von Bildern genutzt wird. Was Wintersberger betrieb, war reine Malerei.

Seine immer kühner werdenden Bildausschnitte und zunehmenden Verfremdungen hoben den Schmerz auf eine ästhetische Ebene, ohne seine Empfindung selbst zu negieren. Erst beim genauen Betrachten erkennt man in der 1969 entstandenen »Spaltung 13« ein plastisch herausgearbeitetes, in drei Einzelteile zerlegtes oberes Fingerglied. Hier wird zwar eine schwerwiegende Versehrung veranschaulicht, jedoch gleichzeitig auf malerisch versierte Weise überhöht. Die Kunstharz-Dispersionsfarbe auf Nessel erlaubt einen gleichmäßig mattierten, farbräumlichen Auftrag, der das »schmerzhafte« Thema in einer gleichsam körperlichen wie körperfernen Form erstrahlen lässt. Der beigefügte Untertitel »Buick« bezieht sich auf die Ende der 1960er und 1970er Jahre erfolgreiche Luxus-Automobilmarke gleichen Namens – erst in dieser Konnotation fällt die Hohlform der Fingerkuppe auf, die entfernt dem Heckfenster eines Autos ähnelt. Dass Wintersberger auf einen solchen, zum Statussymbol aufgewerteten Gebrauchsgegenstand anspielt, bringt ihn nicht nur in Verbindung zum eigenständigen »German Pop«, der sich kritisch mit der amerikanischen Vorlage auseinandersetzt, sondern auch in die Nähe des Nachkriegs-Avantgardisten Konrad Klapheck. Dass Wintersberger auf dessen technisches Instrumentarium verzichtete und den Menschen selbst zum Probanden, zum Ersatzteillager und zum Ziel einer – wenn auch ästhetisierten – Aggression machte, lässt seine Kunst drastischer wirken. Sie lässt uns nicht kalt, wie frigide seine dargestellten Gewaltakte auch erscheinen.
Das änderte sich übrigens auch nicht, als er in den 1970er Jahren seine Bildsprache komplett umstellte. Wenn Sie in der Ausstellung nach hinten durchgehen, könnte der unvorbereitete Besucher meinen, er habe es mit einem anderen Maler zu tun. Wir haben es jedoch nur mit einem umgekehrten ›Iconic Turn‹ zu tun, wie wir ihn bei anderen Künstlern beobachten: Während beispielsweise Gaul, Pfahler oder Hajek aus einem informellen Geist heraus und von der Pop Art angeregt – nahezu schlagartig in den 1960ern in eine informationsästhetische und signalhafte Bildsprache wechseln, schwenkt Wintersberger zehn Jahre später von einer abstrakt-realistischen Feinmalerei, die schon von der Pop Art inspiriert war, zu einer expressiv-gestischen Haltung, die einen Brückenschlag zu den Neuen Wilden ermöglicht. Das fügte sich nahtloser aneinander, als man meinen könnte. Dazu muss man wissen, dass der junge Wintersberger zeitweise in Berlin das Atelier mit Markus Lüpertz teilte und mit diesem sowie mit anderen Künstlern wie Karl Horst Hödicke eine Produzentengalerie, »Großgörschen 35« nach der Straße ihrer Zusammenkünfte, gründete, wo sich so manche Enfants terribles tummelten. Mit seinem Umzug nach Stuttgart, dann nach Köln, von einem Aufenthalt in den USA inspiriert, erweiterte sich sein Blickfeld: Seine Malerei öffnete sich der Mythologie und der Naturdarstellung, klassische Gattungen wie das Porträt oder die Landschaftsmalerei bemächtigten sich seiner Bildsprache, die sich mal düster geheimnisvoll äußerte, mal ironisch-sarkastische Züge annahm. Doch was machte Lambert Maria Wintersberger mit den althergebrachten Genres! Nichts hielt er so, wie man es hier hätte erwarten können, es war kein wirklicher Rückzug von den Aggressionsbildern der zerstörten Gliedmaßen, es war kein Bruch zu Gunsten einer heftigen malerischen Position.
Er malte seine Welt weiter, nur mit anderen Mitteln. Die Leinwand ersetzte den Nesselstoff, die Ölfarbe die Kunstharzfarbe. Die Handschrift kam deutlich zum Vorschein, aber nach wie vor widmete er sich Motiven, die er in Serien zyklisch ausformulierte, und die nur vordergründig banal oder harmlos wirkten: Pilze, Berge – mit Vorliebe das Matterhorn –, mythologische Mischwesen wie Kentauren, Minotauros, dazu Tiere aller Art – sagenhafte wie apokalyptische Pferde, das Bild des Schlachthofs inklusive. Nach wie vor vermochte er den Betrachter in seine Arbeiten reinzuziehen. Diese Bilder nur anzuschauen, verstört uns zuweilen nicht minder, als wenn wir vor den zerstückelten Gliedmaßen stehen. Denn eines muss uns bewusst sein: Wer versucht, diese Motive für sich zu ergründen, wird scheitern. Der »Fels mit Pilz« ist motivlich simpel, in der Ausführung eine Sensation. Rein formal kann man den monumentalen Fels in Analogie zum aufgereckten Daumen früherer Jahre setzen, der Pilz hätte aufgrund seiner parasitären und zersetzenden Natur die Funktion des Aggressors. Aber auch das wäre zu einfach. Pilze sind in ihrer Struktur eine eigene Spezies zwischen Pflanze und Tier, auch Mischwesen – also weit entfernt von der landläufigen engen und doch auch pikanten Vorstellung des essbaren oder giftigen Gewächses, wenn wir zudem noch die psychedelische-berauschende Wirkung mancher Sorten bedenken. Winterberger hat dem Pilz unzählige Arbeiten gewidmet. In unserem Monumentalbild verschmilzt er als riesenhafter Protagonist mit dem Fels. Soweit kommen wir dem Gemälde über den Titel nahe. Aber nähern Sie sich dem Motiv nicht allein über inhaltliche Assoziationen, meine sehr geehrten Damen und Herren – sobald Sie dicht vor dem Motiv stehen, verliert es seine Deutbarkeit und wird pure Malerei.
Meine Damen und Herren, wir dürfen mit der Ausstellung in unserer Galerie einmal mehr auf einen der beeindruckendsten, außergewöhnlichsten deutschen Maler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweisen. Dass er nach 1980 mehrere Jahre in Stuttgart lebte, bevor er sich 1985 ins Elsass zurückzog, muss gerade in Süddeutschland stutzig machen, wo sein Name in den vergangenen Jahren wenn nicht in Vergessenheit geraten, so doch in ein Erinnerungsloch gefallen ist, aus dem man gelegentlich seine Daumenbilder mit Kultstatus hervorholt, aber die malerische Qualität dieser und der späteren Arbeiten leicht übergeht. Dass seine Bildsprache bis heute in hohem Maße nachwirkt, sei am Rande erwähnt. Am Jahresende zeigen wir Arbeiten von Cordula Güdemann, Professorin in Stuttgart, die wir seit Jahren vertreten, und die mir letzthin sagte, wie sehr der Malstil von Wintersberger sie inspiriert habe. Diese Malerei ist kein Spiel, auch wenn wir immer wieder ins Grinsen verfallen ob der grotesken Einfälle. Sie ist vor allem bedingungslos nicht nur sich selbst, sondern auch dem Betrachter gegenüber. Niemand wird geschont, aber im genötigten Hineintauchen in die Malerei selbst wird jeder belohnt.
Die Kunst von Lambert Maria Wintersberger ist fraglos in der Kunstgeschichte verankert. Sie ist aber auch lebendige Malerei, die uns noch heute ergreift, ja: angreift. Das hat mit dem Verhältnis von Bild und Abbild zu tun. Glauben Sie nicht, dass Sie etwa bei dem klischeebehafteten Matterhorn nur einen Berg zu sehen kriegen. »Naturrealität«, so Wintersberger, »kann so übergreifend mächtig sein, dass man sie sich per Nachbild und Imitation unterwerfen muss.« Immer wieder hat er den berühmten Schweizer Berg gemalt, aber sich nicht gescheut, ihn in die Karibik zu verlegen, ihn mit sich selbst als Alter Ego des Bergs zu konfrontieren, wie überhaupt alles, was Wintersberger malte, irgendwie zu Selbstbildnissen geriet. Die Außenwelt kann in der Unbedingtheit und in der mal privatmythischen, mal in der rein malerischen Handschrift auch nur ein Reflex auf die Innenwelt des Künstlers sein. Ein Selbstporträt in der Landschaft drängt den Künstler in die rechte untere Ecke, auf einem anderen Bild mischen sich Landschaft und Malerpalette zu einem Motiv. Die Magie zweier Pferde, die in inniger Zweisamkeit und wohl vom Mond beschienen durch die Nacht tollen, oder die Fenster-Aquarelle, die in der Eindringlichkeit eher Öffnungen nach innen als nach außen sind, oder die Sonnenblumen, die ohne die Assoziation Van Goghs kaum gesehen werden können – all das ist weit mehr als die Erkenntnis aus dem Titel. Dazu kommen die Künstler-Chiffren wie die des Kentaurs oder des Minotauros, die auf das Künstlertum hin zu interpretieren sind. So hoch müssen wir jedoch gar nicht ansetzen – der Surfer ist nichts anderes als der Inbegriff des Künstlers, der versucht, die Wellen des Lebens zu meistern.
Die Schönheit, auch die der Bergwelt, ist nicht ohne die düstere Seite des Seins, bis hin zum Grauen zu haben. Räume sind selten perspektivisch wahrzunehmen, sondern nur über die Farbe – und die gibt ständig Rätsel auf über das, was sie aus dem Nichts heraus zu schaffen vermag. Die irritierenden und auch widersprüchlichen Inhalte gehen zwar einher mit einer speziellen Schnitttechnik und grotesken Montagen, die an Collagen erinnern, aber sie bleiben Abbild der Irritationen, die wir täglich erleben. Die Monumentalisierung, die Wintersberger allenthalben pflegt, täuscht eine Heroisierung vor, die der Maler aber durch die Fragmentierungen immer wieder karikiert und vom Sockel holt – nur so kann er es sich erlauben, Eichenlaub darzustellen, ohne jeglichen Dünkel zu erzeugen. Selbst Zitate aus der Geschichte oder der Kunstgeschichte werden bei ihm zu Selbstbildern. Die grausigen Motive eines Francesco Goya werden bei Wintersberger zu Mahnungen an unseren menschlichen Umgang, zu dem sich der Maler klar bekennt. Wir sind, wie wir sind. Nirgendwo macht Wintersberger schonungsloser darauf aufmerksam als in seinen Selbstporträts, die das eigene Ich auseinandernehmen, als wollte er einen zerstörten Menschen vorführen. Ich behaupte: nein, tut er nicht. Der philosophische Diskurs über den Menschen war ihm offenbar nicht so wichtig, wohl weil er als Künstler wusste: »Ich kann mich nur auf meine geringen Mittel verlassen, darauf, dass mit Farbe etwas entsteht, was erstens mich überrascht und zweitens doch wahr ist und dann gegen alles andere steht.« Die Ambivalenz der Wirklichkeit in der Kunst wird in den Bildnissen deutlich, die einem abstrakten ›Naturalismus‹ zwischen erschreckender Demaskierung und zärtlicher Annäherung huldigen, freilich weit entfernt von jeglicher veristischen Darstellung. In Anklängen an die frühere Zergliederung der Finger fügte Wintersberger collagenartig fragmentierte Gesichtsteile so zusammen, dass durchaus erkennbare, zumindest erahnbare Porträts entstanden – übrigens parallel in dieser deformierten, technoid-geometrisierten Malweise wie in einer pastos gestikulierenden Bildsprache, die Wille und Vorstellung ineins setzen. Das eine entstand als gestische Artikulation in sogenannten Malpappen-Porträts, das andere in der demaskierenden Freilegung des Wesens, welche die eigene Person nicht ausnahm. Das mag nicht immer schmeichelhaft sein, aber über die Erkenntnis, dass der Mensch ein verletzliches Geschöpf ist, darüber hinaus kein Roboter, sondern ein scheiterndes, leidensfähiges Wesen ist, triumphiert die Macht der Malerei, die uns hier in ihrer Einzigartigkeit begegnet. »Es ist«, schrieb Wintersberger, »meine Malerei und mein Künstlertum«. Bei diesem Selbstbekenntnis liegt es nun bei uns, die Faszination der Malerei für uns erlebbar zu machen, uns mit der Kunst von Lambert Maria Wintersberger zu identifizieren. Ich weiß, er macht es uns nicht immer leicht. Aber der Zauber seines Werks, welches das Leben ernst genug nimmt, um ihm nicht zu entfliehen, sondern es allein mit den Mitteln der Malerei ohne Abstriche seiner Unzulänglichkeiten und Gewaltpotenziale abzubilden, ist unermesslich – denn am Ende erfasst uns die Ambivalenz einer brüchigen Schönheit, die auch unser Leben prägt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Günter Baumann, März 2019
© Galerie Schlichtenmaier und Dr. Günter Baumann