21.07.18

Wie Lektüre die Arbeit bereichert

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 ODER DIE BIBLIOTHEK DES KÜNSTLERS

Während wir weiter den umfangreichen Nachlass des Künstlers Lambert Maria Wintersberger in seinem alten, zum Wohn- und Atelierhaus umgebauten Bahnhof im Elsass innerhalb von herausfordernden vier Wochen inventarisieren, fallen uns nicht nur Kunstwerke, sondern auch die Lektüre nebst Lesesessel des Künstlers in die Hände. Plötzlich ergeben sich Zusammenhänge mit Werken und Querverweise zu anderen Künstlern. So geschehen zum Beispiel mit dem „Atlas der gerichtlichen Medizin“ von Waldemar Weimann und Otto Prokop in der Auflage des VEB Verlag Volk und Gesundheit Berlin von 1963.


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NACH WEIMANN / PROKOP 

Zwischen 1977 und 1982 finden sich eine Reihe von Kohlezeichnungen im Œuvre von Lambert Maria Wintersberger, die direkt auf die Abbildungen des gerichtsmedizinischen Buches zurückzuführen sind. Wir suchen nach der Quelle in seiner Bibliothek und werden fündig. Das Buch wirkt nicht nur wie Lektüre, sondern wie ein aktives Arbeitsmittel des Künstlers: Seiten sind ausgerissen, der Umschlag ist gelöst, Stellen wurden markiert und Abbildungen ausgeschnitten. 

Die Reproduktionen in dem dicken Band mit 823 Seiten sind zu unserem Erleichtern alle in Schwarzweiß. Das gesamte e.artis Team hält mit der Arbeit inne. Geteiltes Leid bei Ansicht ist in so einem Fall halbes Leid. Alle Abbildungen sind echte Tatortfotos. Wir kommen beim Anblick an unsere Grenzen. Und dennoch fasziniert es. Die einleitenden Worte sind von sachlich-wissenschaftlicher Natur und man spürt den Erfahrungsschatz der Autoren, sowie den Wunsch der Rechtsmediziner, jungen Kollegen Wissen für eine erfolgreiche Arbeit zu vermitteln. Das Augenmerk liegt auf der Gleichförmigkeit von Reaktionen in Tathergängen, die Rückschlüsse auf Ursachen des Todes geben.

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Dass Lambert Maria Wintersberger nicht der einzige Künstler war, der von diesem Fachbuch inspiriert arbeitete, erfahren wir in einem Interview von KUNSTLEBEN BERLIN mit Wolfgang Petrick. Auch Arnulf Rainer, Bernhard Schulze und Walter Stöhrer seien von dem kriminalmedizinischen Klassiker beeinflusst gewesen. Die Galerie der Stadt Kornwestheim stellt 1994 unter dem Titel „Lambert Maria Wintersberger Malerei – Plastik – Zeichnung 1972-1994“ einige dieser Zeichnungen nach Weimann / Prokop aus und publiziert diese im dazugehörigen Katalog. 

TWEN 
Wir finden auch alte Magazine und Zeitschriften, die über Wintersberger berichtet hatten. So die Jugendzeitschrift twen, die von 1959 bis 1971 erschien.
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Die gefundene Ausgabe stammt vom 12. Dezember 1969. Wir sind gespannt, was die damalige Jugend so interessierte. Wir sind wenig überrascht, dass die Themen Sex, Liebe und Beziehung offenbar zu allen Zeiten junge Erwachsene beschäftigen und dreiviertel des Heftes füllen. Aber es geht auch in einem ausführlichen Beitrag um Religion, explizit dem Zweifel am Christentum, wo doch bald Weihnachten vor der Tür stand. Dementsprechend findet sich Werbung für MonCheri mit der Piemont-Kirsche, Henkel Sekt und alpi wie dralon Krawatten, Zigaretten, Alkohol, Parfum, aber auch bemerkenswert viel Werbung für Intimspray. Auffällig dabei, dass viel weniger bildbezogen geworben wurde, sondern noch argumentativ mit langen Textpassagen in der Anzeige. Das mehrere Seiten echten Fellen als Modehighlight gewidmet sind, mutet im neuen Jahrtausend ziemlich weltfremd an.

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WINTERSBERGER: MALER OHNE PLÜSCH 

Nach einer Seite mit vielen seiner Verletzungsbilder und einer kurzen Einführung zu seinem Lebenslauf beginnt der Beitrag über Lambert Maria Wintersberger mit der Frage: Was ist das für ein Mensch? Es folgt eine persönliche Schilderung der Lebensumstände von Wintersberger, die mit Zitaten wie „Ich will so frei wie irgend möglich sein“ und „Ich will mich nicht etablieren, festlegen, mir nicht selber äußerliche Zwänge auferlegen“ gespickt sind. 
Gleichzeitig wird das Familienleben nachgezeichnet und seine erste Frau Agnes Wintersberger mit dem gemeinsamen Sohn Jimy als Teil seiner „heilen Welt“ „ohne Plüsch“ vorgestellt, die dem „Egoist, wer nicht?“ „Nestwärme“ geben.
Es wird die Wohnung in Stuttgart als eine Art „Werkswohnung“ beschrieben, mit „nackten Dielen, weißgetünchten Wänden und kaum Mobiliar.“ So ähnlich zeitlos ist es auch hier in seinem Alterssitz im Elsass, wo wir nun diese Zeitschrift aus einer anderen Zeit gefunden haben, die den Beitrag über den damals 28-Jährigen mit den Worten schließt:
„Fleißig, begabt, ein Mann, der am liebsten immerzu nur lieben möchte. Privat – und sogar in seinen Werken.“